Tatsächlich ist es heute viel normaler, sich mit dem eigenen Innenleben zu befassen, als das noch vor wenigen Jahrzehnten der Fall war.
Das ist erst mal eine wirklich gute Nachricht und zeigt einen eindeutigen Trend, der sich durch die gesamte Gesellschaft zieht. Wir interessieren uns zunehmend für uns selbst, für das was uns ausmacht, für das was uns stark geprägt hat und zum Glück auch für das, was wir aktiv gestalten können. Und es gibt auch viel mehr Möglichkeiten sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Eine Therapie zu machen ist kein Tabu mehr, besonders bei jungen Menschen und auch ohne Therapie gibt es unzählige Angebote, um sich selbst besser kennen zu lernen und sein Leben im Wissen, um persönliche Muster und immer bewusster und selbstwirksamer zu gestalten.
Die Beschäftigung mit dem eigenen Innenleben, den Vorlieben, Unsicherheiten, Interessen, Leidenschaften, Ängsten, Stimmungen und Bedürfnissen ist in der Tat eine vergleichsweise junge Beschäftigung. Unzählige Angebote, Artikel und Posts von Coaches, Journalisten, Wissenschaftlern und Influencern machen uns deutlich, dass es zu dem Thema sehr viel zu sagen gibt. Manches davon ist seriös, manches plakativ und manches manipulativ. Coaching hat jedenfalls den Mainstream erreicht und macht auch beim Individuum nicht halt. Auch Organisationen und Teams müssen sich darauf einstellen, dass das Innenleben von Organisationen stark durch den Umgang mit und der Transparenz über das eigene Innenleben der Mitglieder geprägt ist. Bei einer solchen sich aufbauenden Welle sollten wir über uns über unliebsame Nebenwirkungen nicht wundern.
Jeder Trend ruft Gegenspieler auf den Plan
Natürlich gibt es auch eine entsprechende Gegenbewegung, die versucht durch das Festhalten an Stereotypen wie z.B. dem traditionellen Männlichkeitsideal Sicherheit herzustellen und vertrautes Terrain zu verteidigen. Die dem zu Grunde liegende Angst Privilegien zu verlieren und etwas ändern zu müssen ist so lange verständlich, solange es scheinbar keine Aussicht auf Besserung in irgendeiner Hinsicht gibt. Und solange es diese Gegenbewegung gibt, müssen wir annehmen, dass für einen großen Teil der Bevölkerung nicht als Vorteil angesehen wird das eigene Innenleben zu kennen. Im Gegenteil, die Auseinandersetzung ist bedrohlich und wird deswegen entwertet. Coaches und Psycholog:innen werden zum Feindbild.
Was ist Heilung?
Diese Gegenbewegung soll aber nicht Gegenstand der Betrachtung sein, sondern die Tatsache, dass das Interesse am eigenen Innenleben grundsätzlich im Wachsen befindlich ist. Auch das Wort „Heilung“ stellt in diesem Zusammenhang kein Tabu mehr dar. Heilung bedeutet die Bewusstmachung bestimmter Prägungen (positiver sowie negativer) und die Auseinandersetzung damit. Der nächste Schritt ist die Bereitschaft die damit verbundenen Gefühle zu fühlen und diese bewusst wahrzunehmen. Dies ist in der Regel der schwierigste Teil. Schließlich geht es, um die Erkenntnis und Annahme der ureigensten tiefsten Sehnsüchte jenseits der Prägungen und die Bereitschaft diese in erreichbare Ziele zu transformieren.
Was ich hier mit wenigen Worten beschreibe, sind in Wirklichkeit tiefgehende zyklische Prozesse, die Zeit und einen sicheren Rahmen brauchen sowie die Zeugenschaft anderer Menschen.
Prägungen bewusst machen
Beginnen wir mit den sogenannten Prägungen und Muster, denen wir damit auf die Schliche kommen. Viele Prägungen entstehen durch konstante Erfahrungswiederholung mit den Menschen, mit denen wir in unseren ersten Lebensjahren verbringen. Die meisten dieser Prägungen sind heute nicht mehr so traumatisch, ein großer Unterschied zu den vielen Jahrhunderten autoritärer Erziehung und kriegerischer Auseinandersetzungen, die wir hinter uns haben.
Doch nach wie vor bedarf es Mut sich in die Auseinandersetzung mit uns selbst zu begeben. Woran liegt das? Unsere Prägungen können wir uns tatsächlich wie Imprints vorstellen. In der Kindheit versuchen wir die schmerzhaften Prägungen erst mal nur zu überleben. Dazu ist es hilfreich die dazugehörenden Gefühle, abzuschneiden. Ähnlich wie wenn wir einen Unfall haben mit körperlichen Verletzungen. Am Anfang spüren wir den Schmerz der Verletzung nicht, um uns gegebenenfalls noch weiterbewegen und damit außer Gefahr zu bringen zu können. Ein ähnlicher Mechanismus ist in der Psyche wirksam. Die unangenehmen Gefühle (Schmerz) werden in der Folge in der Regel weiter verdrängt. Das auslösende Ereignis wird mitsamt dem nicht zu Ende gefühlten Schmerz im Inneren abgekapselt und ist damit erst mal „unschädlich“ gemacht. Das Leben geht weiter und als Kind lernen wir in der Folge bestimmte Situationen zu vermeiden, wir bilden darauf abgestimmte Wahrnehmungsfilter und Verhaltensmuster aus usw. All dies geschieht unbewusst.
Keine Angst vor der Box der Pandorra
Wenn wir nun damit anfangen unsere unbewusst aufgebauten Lebensbewältigungsstrategien zu hinterfragen, weil wir merken, dass wir damit immer wieder an Grenzen stoßen, kommen wir nicht daran vorbei uns diesen abgekapselten Ereignissen samt ihrem dazugehörigen Schmerz bewusst zu machen und die damit verbunden Gefühle zu Ende zu fühlen. Diese Gefühle sind oft Wut, Schmerz, Scham und Schuld. Unbewusst befürchten wir sie nicht zu überleben, deshalb haben wir in der Regel schon viel Energie darauf verwendet, diese verkapselten Energieknoten weiter zu unterdrücken bzw. zu verdrängen. Doch das kostet tatsächlich viel Energie und die Befürchtung, die Auseinandersetzung nicht zu überleben ist zum Glück unbegründet. Dies liegt zum großen Teil daran, dass die abgekapselten Erfahrungen nicht mehr so traumatisch sind, wie in früheren Generationen und dass es sich oft um weitergegebene Traumata handelt, die wir reproduzieren.
Sicherer Rahmen und Zeugenschaft
Am effektivsten gelingt diese Auseinandersetzung innerhalb eines sicheren Rahmens und in Anwesenheit anderer. Tatsächlich brauchen wir ein wohlwollendes, mitfühlendes Du, ein nicht wertendes und nicht dramatisierendes Gegenüber, dass uns sicher durch diese Prozesse führt. Ein solches Gegenüber ist am besten eine erfahrene Prozessbegleiter:in, die keine Angst vor intensiven Gefühlen hat. Unserer Erfahrung nach unterstützt ein Gruppenkontext die Befreiung von alten Mustern erheblich. Wenn Menschen sich an einem Ort mit Menschen befinden, an dem sie gesehen werden, so wie sie sind, ohne irgendeine Rolle spielen zu müssen oder bestimmte Erwartungen erfüllen zu müssen. Wo sie die Erfahrung machen können, dass sie in ihren verletzlichen Momenten nicht entwertet werden, sondern von der Gruppe gehalten und für ihren Mut geschätzt werden. Eine solche positive Erfahrung ermutigt gegebenenfalls weitere Personen aus der Gruppe sich noch tiefer auf diese Reise einzulassen und nach und nach ihre Themen bewusst zu machen, durchzufühlen und dann auch abschütteln zu können, indem sie sich darauf ausrichten, was sie aus eigenem Antrieb jenseits von Überlebensstrategien erfahren wollen.
Heilung gelingt zyklisch
Wer solche persönlichen Erfahrungen in einer Gruppe zum ersten Mal macht ist oft tief berührt und bewegt. Es entstehen tiefe Bindungen und Nähe, viele Menschen sind überrascht, dass man sich so nahe kommen kann mit Menschen, die man erst so kurz kennt. Die Erfahrungen in der Gruppe sind sehr heilsam, weil sie die Sehnsüchte unserer inneren verletzen Kinder nach „Gesehen werden“ und „so sein dürfen“ bewusst machen und erfüllen. Solche Heilungsimpulse sind wohltuend und lösen Entwicklungsschübe aus. In der Euphorie dieser positiven Veränderungserfahrung kann es passieren, dass man vergisst, dass das Leben in Zyklen verläuft und deshalb bestimmte Themen auf einer anderen Ebene wiederkehren können bevor sie endgültig verschwinden. Man ist also in der Regel nie fertig mit diesem „heil“ werden und darum geht es auch gar nicht. Entwicklung und Heilung verläuft spiralförmig wie so viele Bewegungen in der Natur und im Universum. In diesem Wissen können wir uns der Bewegung anvertrauen und immer wieder in die nächste Kurve wagen.