05.08.2020 | Blog

Gefühle zu Ende fühlen

Ein Artikel von: Christin Colli

Was passiert genau, wenn wir Situationen erleben, die uns erschrecken, beängstigen, verletzen oder auf irgendeine andere Art und Weise erschüttern?

Wir alle machen solche Erfahrungen von klein auf. Manche sind schlimm, manche nicht so schlimm, dennoch sind die Abläufe ähnlich. Wenn es sehr schlimm ist, spricht man von traumatischen Erfahrungen. Diese sind für das Umfeld nicht unbedingt erkennbar und werden auch oft nicht als solche wahrgenommen. Was passiert da genau? Wenn wir etwas für uns Beängstigendes oder Bedrohliches erleben, stellt unser Körper auf Überlebensmodus um. Das bedeutet, dass wir nichts mehr fühlen, ähnlich wie bei einer schweren körperlichen Verletzung, bei der wir zunächst keine Schmerzen empfinden. Diese kommen erst später, verzögert. Das ganze Ausmaß des Schmerzes entfaltet sich erst mit der Zeit. Bei seelischen Verletzungen ist es ähnlich. Um unser Überleben zu sichern, spalten wir die schwer zu ertragenden Gefühle ab, um handlungsfähig zu bleiben. Dieser Mechanismus ist zunächst äußerst sinnvoll. Bei körperlichen Verletzungen kommt der Schmerz dann allerdings doch irgendwann und wir müssen mit ihm umgehen. Bei seelischen Verletzungen neigen wir dazu, den Schmerz weiterhin wegzudrücken oder zu verdrängen. Wir möchten ihn nicht fühlen, es fühlt sich genauso bedrohlich an, wie die Erfahrung, die ihn hervorgebracht hat. Wir befürchten unbewusst es nicht zu überleben, wenn wir diese Gefühle zulassen. Deshalb drücken wir sie weg. Dann verkapseln sie sich irgendwo in unserem Körper und kosten uns Energie und Lebensfreude, denn sie wurden buchstäblich vom Körper „nicht zu Ende gefühlt“. Im schlimmsten Fall bekommen wir nach Monaten oder Jahren Symptome wie Angststörungen oder Depressionen, dann spricht man von einer posttraumatischen Belastungsstörung. Aber auch ohne diese Extreme hat das Wegdrücken dieser Gefühle einen hohen Preis.

Denn auch Gefühle sind körperliche Abläufe. Schmerz äußert sich durch Weinen, Schluchzen, Zittern. Ebenso sind die Schmerzen für den Einzelnen deutlich im Körper lokalisierbar. Mancher erlebt sie als Brennen im Brustbereich oder Herzschmerz, Bauchschmerz oder auch als Blockadegefühl im Hals. Wir unterschätzen, wie sehr der Körper in unsere psychischen Abläufe einbezogen ist und wie wichtig er deshalb auch für die Auflösung – man könnte fast sagen „Erlösung“ – verkapselter oder verdrängter Schmerzerfahrungen ist.

Wie können wir also lernen mit schmerzhaften Erfahrungen umzugehen, unsere Gefühle zu Ende zu fühlen?

 Hier eine Anleitung:

  • Wenn ein unangenehmes Gefühl aufkommt, beginnt der Verstand sich auf eine innere Geschichte zu fokussieren, die dieses Gefühl begleitet und in die wir uns normalerweise verrennen. Diese Geschichte hat mit dem Erlebten zu tun, mit uns selbst und anderen Personen und unseren Schlussfolgerungen, wie „ich bin nicht gut genug, ich bin ausgeliefert, ich bin schlecht, ich bin schuld, ich bin allein, …“.
  • In diesem Moment ist es entscheidend, bewusst wahrzunehmen, sozusagen STOP zu sagen, um nicht der Gewohnheit nachzugeben, unsere Gefühle zu denken, anstatt sie zu fühlen.
  • Stattdessen sind wir gefordert, unsere Aufmerksamkeit von den Gedanken und der Geschichte wegzulenken und die Wahrnehmung auf den Körper zu richten: Was spüre ich? Wo genau nehme ich etwas wahr? Entscheidend ist, genau hin zu spüren und die Wahrnehmung zu benennen, zum Beispiel meine Brust fühlt sich eng an, ich spüre einen Kloß im Hals, mein Magen schmerzt… .
  • Dann atme in diese Körperempfindung hinein, lasse sie zu – Weinen, Zittern, was auch immer und bewerte es nicht.
  • Der Verstand wird alles daransetzen, um uns in die „Geschichte im Kopf“ zurückzuziehen. Die Herausforderung ist deshalb, die Aufmerksamkeit immer wieder auf die Körperwahrnehmung zu richten, wie ein Wissenschaftler, der interessiert beobachtet, was sich im Körper abspielt.
  • Tiefes Atmen unterstützt den Fokus auf dem Körper zu halten. Wir können die Gefühle da sein lassen und darauf vertrauen, dass sie auch wieder gehen werden. Wir können interessiert beobachten, was sich im Körper tut und verändert. Nach einer Weile stellen wir erstaunt fest, dass es vorbei ist. An dieser Stelle ist es wichtig mitzubekommen, dass wir es überlebt haben, die Gefühle zu Ende zu fühlen.

Dieser Prozess ist noch wirksamer und auch einfacher, wenn andere Personen anwesend sind und uns beim zu Ende fühlen unserer Gefühle begleiten. Andere Personen wirken einerseits wie Resonanzkörper während wir fühlen und sind gleichzeitig Zeugen unseres Veränderungsprozesses. Entscheidend dabei ist, dass starke Gefühle und Empfindungen da sein dürfen und die anwesenden Personen den Rahmen halten können, also selbst keine Angst vor starken Gefühlen haben.

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