Einladung zum Umdenken:
Von der patriarchalen Betrachtung des Geistes als Quelle allen Seins zu einem ganzheitlichen Verständnis von Materie und Körper.
In einer bestimmten Szene ist es wichtig „spirituell zu sein“. Ich kann mich erinnern, vor über 30 Jahren schon Klagen darüber gehört zu haben, dass Spiritualität so wichtig sei und dass sie es in Europa immer noch so schwer habe. Heute ist Spiritualität nicht mehr „komisch“. Für viele Menschen ist der spirituelle Bereich wichtig und normal und gehört zum Alltag.
Ich liebte und verschlang schon in meiner Jugend die spirituellen Bücher, die es zu finden gab: Mystik im Christentum, Buddhismus, Hinduismus, Shintoismus, Schamanismus – sie faszinierten mich alle. In dieser Phase halfen sie mir vor allem meine eigenen Erfahrungen, für die es in der mir bekannten Welt keine Erklärungen gab als legitim zu integrieren und mir zu versichern, dass mit mir alles in Ordnung war.
Ich persönlich tue mich mit dem Begriff Spiritualität inzwischen schwer. Früher war ich voll dabei. Ich kannte die Sehnsucht nach spirituellen Erfahrungen und das Fasziniert sein davon. Auch verstand ich die strengen Mahnungen eigentlich aller Konzepte, dass es bei der spirituellen Entwicklung eben gerade nicht um die Jagd nach diesen Erfahrungen gehe. Mir gaben sie Antworten in einer Welt, die eine ganze Erfahrungsdimension auszublenden schien.
Mit Ende 20 lebte ich schon in Berlin und die ersten spirituellen Buchhandlungen hatten eröffnet. Ich war ein häufiger Kunde. Dort fand ich viel Inspiration und war dankbar für viele Gedanken und Konzepte. Bald merkte ich, dass mir in all den spirituellen Betrachtungsweisen etwas fehlte, was ich in den U.S.A Ende der 80iger bei Sun Bear, Moon Deer und Beth Davis vom Bear Tribe kennen und schätzen gelernt hatte: eine holistische Sichtweise unter Einbeziehung der gesamten natürlichen Welt und der weiblichen Perspektive.
Doch Ende der 90iger tat sich was. Die weibliche Stimme erhob sich vorsichtig doch unüberhörbar und ich wurde vertraut mit den Bemühungen um die Deutung der menschlichen Vor- und Frühgeschichte – der Patriarchatskritik, die damals noch nicht einmal so hieß. Diese Perspektive war und ist für mich richtungsweisend. Ich fühlte mich davon angezogen und hatte nie einen Zweifel daran, dass diese Spur aus tiefer Vergangenheit uns helfen würde einen fruchtbaren Weg in die Zukunft zu finden. Interessanterweise gehörte für mich diese instinktive Sicherheit, die immer wieder meinen Weg ausmachte, immanent zu dem dazu, was ich als Spiritualität erlebte.
Ich erlebte sie in meinem Innenraum. Es war weniger wichtig für mich, mich darüber auszutauschen. Das fand ich immer schon schwierig. Spirituelle Erfahrungen sind durch Worte schwer zu vermitteln. Mit der spirituellen Szene hatte ich Probleme. Oft fand ich sie unangemessen einseitig interessiert und gleichzeitig von Opferperspektiven durchdrungen. Deshalb wandte ich mich Mitte der 90iger Jahre der Persönlichkeitsentwicklung durch Coaching zu. Hier fand ich Klarheit durch angeleitete Selbstreflektion und konnte viele alte Gefühle transformieren indem ich sie mir bewusst machte, durchfühlte und der freigewordenen Energie eine Richtung geben konnte, weil ich mich traute mir meine Sehnsüchte bewusst zu machen, sie zu formulieren und entsprechend zu handeln.
Diese ganze Selbstentfaltung erlebte ich als zutiefst spirituell, gerade weil sie nicht mit diesem ständigen Ego und seiner Überwindung beschäftigt war, sondern mich darin unterstütze wirklich zu mir zu finden. Ein Ego erschien mir sinnvoll zum Leben dazuzugehören. Der Begriff Ego ist für das Individuum recht undifferenziert und zur Weiterentwicklung ungeeignet. Geht es für den einen darum seine eigenen Bedürfnisse endlich wahrzunehmen, zu sich zu stehen, sich durchzusetzen und nicht immer hintenanzustellen so mag es für den anderen darum gehen sich selbst mehr zu spüren und zur Ruhe zu kommen, anstatt Zielen im Außen hinterherzulaufen. Es gibt viele unterschiedliche Facetten und Spielarten von blinden Flecken und unförderlichen Denk-, Fühl- und Handlungsgewohnheiten, die zu erkennen oft viel Zeit brauchen. Hier sind differenzierte Landkarten der menschlichen Muster hilfreicher als spirituelle Konzepte von „Ego überwinden und Schattenarbeit leisten“, Schlagworte, die im spirituellen Kontext ständig benutzt werden, dem Einzelnen aber wenig weiterhelfen.
Je mehr ich mich mit dem weiblichen Prinzip und seiner Entwertung im Laufe unserer Kulturgeschichte auseinandersetzte umso schwieriger wurde der Begriff Spiritualität für mich, da er letztlich mit seiner Trennung vom Körperlichen und seinem Streben nach Transzendenz eine zutiefst patriarchale Weltdeutung bedient. Der viel beschworene Kontakt zur Natur lehrte mich, dass wir Körper (Materie) sind, so wie unsere gesamte Mitwelt körperlich ist. Dieser Körper ist weit mehr, als wir gelernt haben. Alles was ich früher als spirituelle Erfahrung interpretiert hätte gehört heute für mich immanent zum Körperlichen dazu. Die Körperintelligenz beinhaltet die „spirituelle“ Dimension, bringt sie hervor und macht sie überhaupt erst möglich.
Die patriarchale Anmaßung Geisteskraft als die eigentliche Schöpferenergie zu installieren und den Menschen (Mann) als „Krone der Schöpfung (von Geist geschaffen) und Herrscher über die Natur (Materie) zu legitimieren ist die Wurzel des Irrglaubens, dass wir uns als getrennte Einzelwesen wahrnehmen und hierarchische Denkkonzepte zutiefst verinnerlicht haben. Jede theologische Ideologie und möge sie noch so spirituell daher kommen ver“herr“licht Erleuchtungskonzepte, die die materielle Welt hinter sich lassen, um in eine rein geistige Sphäre einzugehen, in der die eigentlich schöpferische Potenz beheimatet sei, und die „höher“ sei als das materielle Dasein auf der Erde.
Materie kommt von lateinisch mater = Mutter, Spiritualität kommt von Spirit, lateinisch Geist. Um den Geist (Spirit) zum Schöpfer der Welt zu machen musste die Mutter (Materie), ihrer Schöpferkraft beraubt werden, sie wurde auch entseelt und zum Objekt erklärt, das nach Belieben benutzt, ausgebeutet und dominiert werden darf, um dem Menschen (Mann) zu dienen. Das Ergebnis diese Entwicklung ist heute unübersehbar. Wir bewegen uns kollektiv mehr oder weniger sehenden Auges auf den Untergang unserer Zivilisation zu. Diese hat offensichtliche Zusammenhänge nicht verstanden und sie in ihr Gegenteil verkehrt. Sie führt neben allen „Errungenschaften“ dazu innerhalb weniger tausend Jahre das Leben auf dem Planeten zumindest vorübergehend fast vollständig zu zerstören.
Die Erde ist ein Körper, Schöpfung entsteht von innen nach außen, nicht von oben nach unten (gibt es gar nicht im Universum). Hierarchische Konzepte, die eine Höherentwicklung anstreben und die spirituelle Autorität von der Materie gelöst haben sind uns so vertraut, dass die meisten Menschen nicht wahrnehmen, dass sie demselben Trugbild in wechselnder Gestalt weiter hinterherlaufen.
Wie könnte es anders gehen?
Es beginnt mit einem umfassenden Verständnis und Erleben von Körper und Materie. Der Erdkörper umfasst alles vom Erdmittelpunkt bis hinaus ins Universum. Die Atmosphäre mit ihren verschiedenen Schichten gehört genauso zu diesem Körper wie ihr metallischer Kern. Wir sind ebenfalls ein Teil dieses Erdkörpers, dieser Gedanke ist zum Bsp. immer noch eine Provokation, ein Tabu, wir wollen „mehr“ sein als „das“, ohne zu wissen, was „das“ eigentlich ist.
Wasser ist Leben, eine oft zitierte Weisheit. Die Herkunft des Wassers auf der Erde ist bis heute nicht vollständig geklärt. Ein Teil des Wassers kommt aus dem Erdinneren ein weiterer Teil stammt vermutlich von wasserreichen Asteroiden, die vor langer Zeit in großen Massen auf die Erde eingeprasselt sind.
Das Leben auf der Erde hat sich im Laufe von vielen Jahrmillionen von innen nach außen entwickelt (nicht von oben nach unten oder von unten nach oben). Wir, alle Lebewesen, sind aus der Erde herausgekommen. Bei Pflanzen können wir es immer noch sehen, bei sämtlichen Mikroorganismen ebenfalls. Fische und Wassertiere sind irgendwann an Land gekrabbelt und haben sich ausdifferenziert. Der Erdkörper hat eine atemberaubende Vielfalt an Lebewesen hervorgebracht. Vielfalt in Schönheit garantiert Balance und ist das Erfolgsprinzip der Natur!
Bei Tier und Mensch sehen wir ebenfalls, dass das Leben im Körperinneren des weiblichen Körpers entsteht und dann dort herauskommt und nicht von „oben vom Himmel“ fällt. Der weibliche Körper verleibt sich den männlichen Samen ein, dieser ist ein Beitrag, ähnlich wie Asteroiden einen Teil des Wassers auf die Erde brachten. Das Mysterium, das Leben hervorbringt, findet dann jedoch im Erdkörper, – im weiblichen Körper – statt.
Spätestens hier fliegen einem die Zusammenhänge zwischen den patriarchalen Verdrehungen zur Schöpfung durch den Geist um die Ohren. Die stark beliebte Idee der Seelenwanderung (sehr verführerisch) ist eine weitere Spielart patriarchaler Fantasien, um Schöpfung losgelöst von der Materie aufrechtzuerhalten.
Dabei ist es die Materie, die alles was wir mit Spiritualität verbinden überhaupt ermöglicht und hervorbringt nicht umgekehrt. Spiritualität ist im Grunde der Versuch, die unverstandenen Geheimnisse der materiellen Welt zu vereinnahmen und von der Materie zu trennen. Diese Trennung ist das größte aller Probleme. Sie ist die Konsequenz patriarchaler Weltdeutung und es ist Zeit trennende hierarchische Konzepte zu entlarven und zu einer ganzheitlichen Weltdeutung zurückzukehren. Die Erde ist ein lebendiger Organismus, der sich immer weiter entfaltet und ausformt und an dessen Stoffwechsel wir wesentlich beteiligt sind. Wenn es eine spirituelle Autorität gibt, dann ist es die gesamte natürliche Welt, wir inbegriffen.
„Höherentwicklung“ als Idee ist bereits patriarchale Gehirnwäsche, weil dadurch entweder eine Spezies vom Ganzen abgetrennt wird oder eben der Einzelne. Uns mit dem Ganzen zu identifizieren könnte den nötigen Bewusstseinswandel einleiten. Gaia kann sich nur als Ganzes weiterentwickeln. Sie ist ein Gesamtorganismus und wir sind ein Teil von ihr. Weiterentwicklung bedeutet Vielfalt in Schönheit. Dies erschafft Balance und optimale Lebensbedingungen für ganz unterschiedliche Lebensentwürfe (Artenvielfalt). Die Artenvielfalt wiederum garantiert Balance und Stabilität für Gaia. Diese Möglichkeit bietet sich auch für uns Menschen. Als integraler Bestandteil von Gaia könnten wir uns in die unterschiedlichsten Möglichkeiten hineinentfalten, um am Bewusstseinssprung der Planetin mitzuwirken. Als Nervenzellen, als Gehirnzellen an den unterschiedlichsten Stellen des Gaiakörpers, wo immer es uns beliebt. Ist das nicht inspirierend und vielversprechend?
***
Dieser Artikel erschien als Beitrag zur Ausgabe Nr. 19 “Spiritualität” des maas-Magazins