02.10.2020 | Blog

Ich gebäre

Ein Artikel von: Christin Colli

Am 19.02.20 erblickte meine Tochter Linda das Licht der Welt, in einer Geburtswanne im St. Joseph-Krankenhaus in Berlin. Es gibt ein Foto, das zeigt mich in der Wanne mit dem Baby auf der Brust. Die Nabelschnur verbindet uns noch, sie führt von meinem Schoß zum Kind. Das ist das berührendeste Foto der Geburt für mich. Diese Einheit. Diese Brillanz. Die körperliche Verbindung mit dem Kind durch die Nabelschnur und die Plazenta, die es ermöglicht, neun Monate lang ein lebendes Wesen in meinem Körper zu versorgen, zum Baby hin und vom Baby weg, über zwei separate und dennoch einen und denselben Kanal. Heute, sieben Monate später, bin ich immer noch fasziniert von meiner Erfahrung der Geburt. Möchte in die Welt herausschreien, dass ich sie als kraftvoll, beglückend und selbstermächtigend erlebt habe. Meine eigene Kraft spüren konnte. Einen positiven Umgang mit einem Thema gefunden habe, das im Allgemeinen mit Schmerz und Schwere assoziiert ist. Es ist natürlich unmöglich, im Voraus zu wissen, wie eine Geburt verläuft, unter welchen Umständen sie beginnt, welche Komplikationen auftreten und welche Eingriffe medizinisch notwendig sein werden. Was ich gerne teilen möchte und womit ich eine gute Erfahrung gemacht habe, ist die Auseinandersetzung mit meinen Ängsten und Vorstellungen über die Geburt vorher und wie ich versucht habe, mich möglichst positiv vorzubereiten auf das, was ich beeinflussen kann und mich dem hinzugeben, was ich nicht beeinflussen kann. Es war rumpelig, aber es hat sich gelohnt.

Wahrscheinlich begann meine Geburtsvorbereitung, als ich meine Gebärmutter wiederentdeckt habe; meine Brüste und meine runden Oberschenkel, die ich jahrelang verflucht habe. Das war an einem Weiblichkeitsabend vor etwa zwei Jahren bei Iva Samina, an dem diese uns etwa fünfzehn untereinander nicht bekannte anwesende, im Halbkreis sitzende Frauen einlud, uns nacheinander vorne hinzustellen, bis auf den Slip oder gar nackt auszuziehen und den anderen zu zeigen und zu erzählen, was wir an unserem Körper mögen und was nicht. Völlig verrückt. Und dieser Abend hat etwas in mir ausgelöst. Die tiefe Trauer darüber, dass ich viele Jahre viele Teile meines Körpers abgelehnt, gar gehasst und ignoriert habe. Die leise Hoffnung und das feste Vorhaben, damit aufzuhören und es anders zu machen. Die Gebärmutter war Fokus eines Weiblichkeitsabends kurz danach. Ich hatte bis dahin überhaupt kein Bewusstsein über meine Gebärmutter. Hab sie seit der Jugend mit der Pille und mit Tampons vollgestopft. Was sie noch alles macht und wozu sie gut ist – keine Ahnung. Iva sagte: Die Gebärmutter vergibt. Das hat sie augenscheinlich. Während meiner Schwangerschaft habe ich einmal die Woche einen Bodyscan gemacht, immer dienstags abends auf dem Weg nach Hause auf dem Fahrrad nach dem Kugelbauch-Aqua Fitness. Bin jeden Teil des Körpers durchgegangen und habe mich bei ihm bedankt für das, was er gerade leistet. Das mache ich jetzt in der Stillzeit immer noch. Ich würde sagen, wieder eine Verbindung zu meinem Körper zu fühlen und zu pflegen war wohl die wirksamste und schönste Geburtsvorbereitung, obwohl es mir damals nicht bewusst war.

Die Geburt ist der erste selbstbestimmte Akt eines Menschen. Diese Überlegung hatte ich irgendwo gelesen, reifte in mir und hat mich nicht losgelassen. Um jeden Preis wollte ich erreichen, dass mein Kind diese Erfahrung macht. Es sollte sich von allein auf die Reise machen, allein bestimmen, wann es losgeht und sein Leben in dieser Welt beginnt. Auch ich persönlich wollte eine Erfahrung der Selbstbestimmtheit machen, natürlich gebären, möglichst frei von Technologie, die es abseits von Notfällen nicht braucht, so interventionsfrei wie möglich. Ein schöner und inspirierender Gedanke, der mich geleitet hat, und an dem ich mich auch abgearbeitet habe. Denn natürlich kommen die Dinge oft ganz anders, als man denkt. Gedacht hatte ich, ich würde im Geburtshaus gebären, wo ich trotz mehrmonatiger Warteliste einen Platz ergattert hatte und glückselig den Geburtsvorbereitungskurs und die Vorsorgetermine dort verbracht hatte. Zwei Monate vor dem Termin wurde festgestellt, dass mein Baby für ihr Alter ein unterdurchschnittliches Gewicht hat. Das war der Beginn von fast wöchentlichen Ultraschallen, um die Versorgung des Babys durch die Plazenta, das Fruchtwasser und die Herztöne zu überprüfen. Das Geburtshaus sagte mir ab, weil dort nur Frauen gebären können, die reibungslose Schwangerschaftsverläufe erleben und nicht in Gefahr sind, verlegt werden zu müssen. Also war ich konfrontiert mit einer Krankenhausgeburt und allem, was ich nicht wollte und in meinem Kopf dramatisch inszenierte: sterile Umgebung, medizinische Ein- (und Über-)griffe, Fremdbestimmtheit. Da waren sie, meine Ängste.

Ich war wütend auf das Geburtshaus, weil ich mich ausgeschlossen und abgelehnt fühlte. Minderwertig. Nicht gut genug für eine Institution, die Frauen vorbehalten ist, die keine Probleme haben. Das ist natürlich Quatsch. Das Geburtshaus hat alles richtig gemacht. Eine Verlegung, vielleicht noch die Trennung von meinem Baby, war das, was ich auf keinen Fall wollte. Dennoch trauerte ich um meine ursprünglichen Vorstellungen, musste sie aufgeben und mich mit der Geburt in einem Krankenhaus befassen. Auch mit einem noch viel größeren Thema: der Einleitung. Die Leistung der Plazenta nimmt ab der 40. Schwangerschaftswoche (dem natürlichen Ende einer Schwangerschaft) naturgemäß ab, weil sie ihren Job erledigt hat. Normalerweise kommt das Kind dann von allein, die meisten Geburtshäuser und Krankenhäuser warten deshalb vierzehn Tage ab. In meinem Fall würde vorsorglich schon in der vierzigsten Woche eingeleitet werden. Meine schöne Idee von der selbstbestimmten Wahl des Babys – Adieu. Einleitung bedeutet auch, dass sich aufgrund der Medikamente die Heftigkeit der Wehen über das normale Maß verstärken kann. Meine Angst vor den Schmerzen wurde noch größer. Wenn die normalen Wehen schon so wehtun sollen, wie soll ich es dann mit der Einleitung schaffen? Sie werden mich überwältigen.

Wie es manchmal mit dem Universum so ist, gab mir eine Freundin in dieser Zeit einen wertvollen Tipp. Der Podcast „Die Friedliche Geburt“ von Kristin Graf. Die sechs Wochen vor der Geburt, die ich damit verbrachte, für die Ultraschalle wöchentlich ins Krankenhaus zu fahren, verbrachte ich im Auto mit eben diesem Podcast. Beschäftigte mich mit gedanklich mit Einleitung, Wehentropf, PDA, Kaiserschnitt, Angst vor Komplikationen, positiver Gesprächsführung mit Ärzt*innen und Hebammen. Ich schrieb einen Geburtsplan für das Krankenhauspersonal mit meinen Wünschen und Vorstellungen und besprach ihn auch mit meinem Freund, der unter der Geburt für mich sprechen und entscheiden würde. Bereitete meine Eltern darauf vor, dass ich eine dreiwöchige Ruhe im Wochenbett plane und keine Besuche im Krankenhaus, weil ich nicht wusste, wie es mir gehen würde und damit wir in den ersten Tagen in ungestörter Nähe eine Bindung zu unserem Baby aufbauen können. Das war harter Tobak für meine Eltern und hat unsere Beziehung belastet, gab mir aber vor der Geburt innere Ruhe.

Ich schrieb einen Brief an Linda, um ihr zu erklären, wie ich mich gerade fühle und sie zu bitten, sich von allein auf die Reise zu machen, damit wir zusammen eine spontane Geburt erleben können. Er ist ungeöffnet, ich werde ihn ihr geben, wenn sie ihre Menstruation bekommt.

„Die Gebärmutter ist eine Diva. Sie ist der Chef. Sie allein möchte die Geburt bestimmen. Gib dich ihr hin und vertraue darauf, dass sie und das Kind die Geburt gestalten. Das Einzige, was du tun musst, ist unterstützen und atmen.“ Das waren die Worte von Franziska im Hypnobirthingkurs. Unterstützen und atmen. Unterstützen und atmen. Wir haben Hypnobirthing nicht nach Buch gemacht. Eher ging es um die Idee, uns auf allen Ebenen für die Geburt zu öffnen. Wir haben Mantras entwickelt für unsere Ängste. „Ich kann das!“ „Ich gebe mich hin“. Und die Verbindung zur Körperlichkeit geschaffen, die letztlich so wichtig war. Zu Hause in den Wochen vorher die Wohnung durchgehen, ein Möbelstück in geeigneter Höhe finden, die Hände aufzustützen, etwas in die Knie zu gehen, das Becken kreisen zu lassen, zu denken oder sprechen: „Ich öffne mich. Ich gebäre.“ Mich bewusst im Bett zu räkeln, zu strecken, mich a u s z u b r e i t e n. Den Kiefer, der mit dem Becken verbunden ist, mehrmals am Tag weit zu öffnen, soweit es geht. Im Wohnzimmer zu tanzen. Hingabe zu zelebrieren.

Und – bei mir zu bleiben. Unter der Geburt vielleicht die Augen schließen, im Innen sein, das Außen ausblenden. Ich konnte es tatsächlich spüren, wie die Welle langsam angerauscht kam, wie sich dann in Millisekunden potenziert hat. Ich atme in die Gebärmutter. Ich atme in die Gebärmutter. Ich atme in die Gebärmutter. Ich stellte mir bildlich vor, wie sich mit jeder Atmung und jeder Welle, die ich geschafft habe, der Gebärmutterhals verkürzt und der Muttermund größer wird. Schon fünf Zentimeter. Sieben. Schon drei Stunden. Ich kann nicht mehr. Doch, Du kannst, sagt die Hebamme. Acht. Wir wechseln von der Badewanne, in der ich die letzten Stunden verbracht hatte, in die Geburtswanne. Hoffentlich gibt es keine Unterbrechung der Wehen. Oder werden noch viel stärker. Ich atme in die Gebärmutter. Ich atme in die Gebärmutter. Neun. Zehn. Der Muttermund ist offen.

War ich denn bereit, Mutter zu werden? Natürlich war ich es, schließlich bin ich schwanger geworden und trug neun Monate einen dicken Bauch mit mir herum. Meine Schwangerschaft empfand ich als schön, ich habe es genossen zu fühlen, wie sich mein Körper verändert. Diese Fruchtbarkeit physisch zu erleben, den Zustand der ultimativen Weiblichkeit täglich im Spiegel zu sehen. Aber innerlich war ich nicht gelöst. Dieses Thema, die Verantwortung für einen anderen Menschen, die Veränderung meiner Paarbeziehung, die Konsequenzen für mein tägliches Leben. Am Küchentisch weine ich leise heiße Tränen über den Verlust. Ich war eigentlich noch nicht bereit beziehungsweise ich wusste einfach nicht, was auf mich zukommt. Ich hatte auch Angst, dass ich nicht gut genug sein könnte als Mutter. Mir dieser Angst bewusst zu werden und sie mir einzugestehen, hat mich lange beschäftigt. Eine Beruhigung habe ich nicht gefunden, nur das Wissen darum, dass ich es versuchen werde.

Vielleicht habe ich deshalb auch so am Zustand meiner Schwangerschaft gehangen. Es war Zeit loszulassen.

Im Geburtsvorbereitungskurs meinte die Hebamme, kurz vor den Presswehen gäbe es diesen Moment, wo die Frau sich entscheiden muss: will ich oder will ich nicht – pressen? Ein Kind gebären? Mein Leben verändern? Eine Wahl habe ich nicht in diesem Moment. Es war soweit.

Als Linda zwei Tage überfällig war, zündete ich mir ein Sandelholzstäbchen an und zog damit durch die Wohnung. Bedankte mich für meine Schwangerschaft, für meine Gesundheit, für meinen Körper, für meinen Partner, für die letzten neun Monate. Wünschte mir Kraft und eine schöne Geburt. Dann ging ich in die Badewanne. Danach setzen die Wehen ein. Ist wirklich wahr.

Iva Samina
Hypnobirthing Sanfte Geburt
Podcast: Die Friedliche Geburt

Bücher, die mich inspiriert haben:
Auf der Suche nach dem verlorenen Glück (Jean Liedloff)
Artgerecht (Nicola Schmidt)

 

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